Literaturnobelpreis 1907: Joseph Rudyard Kipling

Literaturnobelpreis 1907: Joseph Rudyard Kipling
Literaturnobelpreis 1907: Joseph Rudyard Kipling
 
Der Brite erhielt den Nobelpreis für die in seinen Werken innewohnende Stärke in Auffassung und Schilderungskunst.
 
 
Joseph Rudyard Kipling, * Bombay (Indien) 30. 12. 1865, ✝ London 18. 1. 1936; ab 1871 Erziehung in England in zwei Internaten, 1882 Rückkehr nach Indien, wo er für eine angloindische Zeitung schrieb, 1886 erste Kurzgeschichten, 1889 Rückkehr nach England, größte Erfolge: 1892 »Balladen aus dem Biwak«, 1894 »Im Dschungel« (Das Dschungelbuch), 1901 »Kim«.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Rudyard Kipling war ein großer literarischer Einzelgänger, der unbeeinflusst von den literarischen Strömungen des Fin de Siècle und des Modernismus mit seiner Erzählprosa und seiner Versdichtung beim britischen Lesepublikum dank seines schlichten Tons und seiner lebensvollen Schilderung des indischen Alltags einen geradezu phänomenalen Erfolg feierte. 1907 erhielt er als erster Engländer den Nobelpreis für Literatur.
 
Der Sohn eines Hochschullehrers wuchs zunächst im ostindischen Bombay auf und lernte neben Englisch auch Hindu. Mit sechs Jahren wurde er von seinen Eltern nach England in ein Erziehungsheim in Southsea gebracht, dessen fünfjährigen Schrecken Kipling später in seiner 1888 veröffentlichten Kurzgschichte »Baa, baa, schwarze Schafe« eindrücklich beschrieben hat. Später besuchte er das United Services College in Westward Ho, North Devon, ein Internat, dessen Eindrücke Kipling ebenfalls den Rest seines Lebens verfolgen sollten. Hier gingen die hohen Ziele der englischen Erziehung einher mit Schlagen und Hänseln. 1882 kehrte Kipling nach Indien zurück, wo er sieben Jahre als Journalist arbeitete. Seine Eltern gehörten zur höchsten anglo-indischen Gesellschaftsschicht und ermöglichten ihm so den Einblick in die ganze Breite des dortigen Lebens. Bald begann er die Blätter, für die er schrieb, mit Beobachtungen aus dem indischen Alltag zu versorgen. 1886 veröffentlichte er seinen ersten Band mit Kurzgeschichten, dem bald weitere folgten. Als er 1889 nach England zurückkehrte, war ihm sein Ruhm bereits weit vorausgeeilt und innerhalb eines Jahres galt er als einer der brillantesten Autoren seiner Zeit. Seine 1892 veröffentlichten »Balladen aus dem Biwak« stellten eine völlig neue Gattung in der englischen Literatur dar und errichteten dem einfachen englischen Heeressoldaten ein Denkmal, der im Volksmund Tommy Atkins genannt wurde und im Vergleich zum Marinesoldaten bis dahin wenig angesehen war. Sie stellen in zweifacher Hinsicht eine bedeutende innovative Leistung dar: Zum einen hat sich seit Shakespeare kein englischer Dichter so eindringlich mit dem Gemütsleben und den Einstellungen des britischen Soldaten im Lager und vor der Schlacht befasst, zum anderen hat Kipling für sein Thema eine neue Form geschaffen, die Elemente von Robert Brownings »dramatic monologues«, die britische Balladentradition und die Gesangskultur der Music Halls zusammenführt. Die hohe Kunst Kiplings zeigt sich in der Charakterisierung seiner Sprecher, durch ihre Redeweise, im pointierten Dialog, in der sorgsamen Handhabungmetrischer und klanglicher Effekte sowie im Gebrauch des Cockney-Dialekts. Durch seine imperialistische Gesinnung geriet Kipling zwar auch im eigenen Land in Verruf, doch spätere Schriftsteller wie William Butler Yeats (Nobelpreis 1923) und Thomas Stearns Eliot (Nobelpreis 1948) rühmten trotz ihrer Vorbehalte gegen den politischen Kipling stets die Einmaligkeit der »Balladen«. Einen nachhaltigen Einfluss übten Kiplings Soldatenlieder auch auf die Lieder von Bertolt Brecht aus.
 
 Die Dschungelbücher
 
1892 heiratete Kipling die Amerikanerin Caroline Balestier und zog mit ihr in die USA. Weltruhm erlangte Kipling mit seinen dort entstandenen Dschungelbüchern, die 1894 erschienen. Die Geschichten vom Inderjungen Mowgli, der als Naturwesen im Dschungel aufwächst und mit den Tieren sprechen kann, faszinieren noch heute Jugendliche in aller Welt. Der starke Erlebnischarakter und die exotische Faszination der beschworenen Dschungelatmosphäre ließen das Werk sehr populär werden. Freilich täuscht die gelungene erzählerische Gestaltung des Urerlebnisses einer von der Zivilisation noch unberührten Natur nicht darüber hinweg, dass gerade auch die Dschungelbücher von jenem viktorianischen Zivilisationsbewusstsein geprägt sind, das für Kiplings literarisches Schaffen so charakteristisch ist. Seine Gesetze des Dschungels sind unübersehbar in der imperialistischen Ideologie verwurzelt. Begriffe wie Autorität, Befehlsgehorsam, Selbstzucht und sportliche Fairness ergeben ein für den englischen Kolonialismus typisches Muster. Auch die chauvinistische Verunglimpfung des Affenvolkes spricht nicht für eine vorurteilsfreie Naturschilderung.
 
Dennoch ist die literarische Nachwirkung der Erzählungen Kiplings kaum zu überschätzen. Von seinem straffen, mitreißenden Erzählstil, der sich vor allem an Robert Luis Stevenson, dem Autor der »Schatzinsel«, orientierte, gingen wichtige Impulse auf die Entwicklung der europäischen und amerikanischen Kurzgeschichte aus.
 
Im 1901 erschienenen Roman »Kim« zeigt sich Kiplings imperialistische Weltsicht weniger deutlich als in anderen Werken. Es dominiert ein geradezu liebevoller Respekt vor allen Erscheinungsformen des indischen Lebens. Das reifste Prosawerk des Autors ist verdientermaßen zu einem Klassiker der englischen Indienliteratur geworden. Zentrales Thema des aus losen, aneinander gereihten Episoden bestehenden und vom Autor selbst als handlungslos bezeichneten Romans ist die Freundschaft zwischen dem schlauen, wirklichkeitsnahen Kim und dem weltentrückten Lama, der nur noch den Wunsch nach Vergeistigung kennt. Um die beiden entfaltet sich das farbenprächtige Indien jener Jahre mit einer Vielzahl von Rassen und Kasten, seinem Nebeneinander von unermesslichem Reichtum und bitterster Armut, von verschiedensten Glaubensrichtungen, Sitten und Gebräuchen.
 
 Verfestigung Kiplings imperialistischer Weltsicht
 
Mit den Jahren verfestigte sich Kiplings imperialistische Weltsicht durch mehrere Aufenthalte in Südafrika und begann ihn, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, mehr und mehr zu isolieren.
 
Aus heutiger Sicht ist die Vergabe des Nobelpreises an Rudyard Kipling nicht mehr ohne weiteres nachzuvollziehen. Kipling war von der Überlegenheit der weißen Rasse fest überzeugt und verteidigte nicht nur das kolonialistische System, sondern vertrat in seinen politischen Schriften sogar offen antidemokratische, autoritäre Positionen, die wohl schwerlich mit den Forderungen übereinstimmten, die Alfred Nobel an seine Preisträger gestellt hatte. Danach war das literarische Werk auszuzeichnen, das »im vorausgehenden Jahr der Menschheit den größten Nutzen gebracht« habe. Doch damals fühlte sich das Nobelpreis-Komitee offenbar vor allem an das zweite Diktum aus Alfred Nobels Testament gebunden, nämlich »das vorzüglichste Werk idealistischer« oder, wie man vielleicht eher sagen sollte, »idealischer Prägung« auszuzeichnen.
 
M. Geckeler

Universal-Lexikon. 2012.

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